Die zwei „Wasserhähne“

Siegmund Hahn, 1664-1742, war Doktor der Medizin, praktizierenderArzt und Stadtphysikus in Schweidnitz (Schlesien). Er ist Ausgangspunkt sowohl der naturheilkundlichen als auch der wissenschaftlichen Wasserheilkunde in Deutschland. Es ist natürlich schwer nachzuweisen, wieweit Prießnitz von ihm beeinflußt war. Aus der Nähe der beiden Wirkungsstätten und aus der Ähnlichkeit der Kuranwendungen läßt sich jedoch schließen, daß, bewußt oder unbewußt, direkt oder auf Umwegen, 100 Jahre später Prießnitz unter dem geistigen Einflüsse von Siegmund Hahn gestanden hat.

Seine medizinischen Studien wickelte Siegmund Hahn in Leipzig und im holländischen Leyden ab. In Schweidnitz erwarb er eine große Praxis, überallhin wurde er zur Beratung zugezogen. Seinem Sohn Johann Gottfried, der an einem schweren Unterleibstyphus, dem sogenannten Nervenfieber, erkrankt war, rettete er durch eine Kaltwasserkur Leben und Gesundheit. Dieser Sohn Johann Gottfried wird praktizierender Arzt und Adjunkt an der Leopoldinisch Carolinischen Akademie in Breslau.

Die schriftstellerische Tätigkeit von Dr. Siegmund Hahn begann 1732, als er in seinem „Peterswalder Gesundbrunnen“ für die Anerkennung und Verbreitung der Kaltwasserkur eintrat.

Der älteste Sohn Siegmund Hahns, Johann Siegmund Hahn, 1696-1773, war praktizierender Arzt und als Stadtphysikus in Schweidnitz Nachfolger seines Vaters. Sein Verdienst besteht darin, daß er das Lebenswerk seines Vaters Siegmund fortsetzte und durch sein klar geschriebenes Buch in weiten Kreisen für dies Lebenswerk zu werben vermochte. Wenn wir im folgenden die wissenschaftlichen Erkenntnisse und die Ergebnisse der praktischen Erfahrungen darstellen, können wir die Lebensarbeit von Vater und Sohn Hahn zusammenfassen. Sie stellen zusammen eine Einheit dar, die nicht mehr getrennt werden kann. Was wir sagen, gilt sowohl für den Vater wie für den Sohn. Wenn man ihre Bücher liest, ist man erstaunt über die Fülle der einzelnen Beobachtungen und Anregungen, und jeder, der sich etwas genauer mit der Geschichte der Naturheilkunde beschäftigen will, muß bei Hahn beginnen, um dort die meisten der später vollentwickelten Methoden der Wasserbehandlung wenigstens in ihren Ansätzen vorzufinden. Um seine Erfolge zu beweisen, berief sich Hahn auf die „Stadtzettel“, d. h. auf die Krankenmeldungen, die er als Stadtphysikus wöchentlich der Stadtgemeinde Schweidnitz einzureichen hatte und die in zunehmendem Maße die Hebung des allgemeinen Gesundheitszustandes und den Rückgang der Krankheiten nachwiesen. Hahn war, wie auch Floyer, der Ansicht, daß in künftigen Jahrhunderten „ein jeglicher Medicus ein Kaltbader“ werden würde.

Nicht nur zu äußerem, sondern auch zu innerem Gebrauch eigne sich das kalte Wasser. Hahn empfiehlt, es täglich beim Aufstehen, während und nach dem Essen, beim Schlafengehen und beim Aufwachen in der Nacht zu trinken. Das errege guten Appetit, das Wassertrinken mache, wie schon Hippokrates gesagt habe, „gefräßig“. Jeder Durst solle immerund überall durch kaltes Wasser gelöscht werden.

Hahn vertrat den Standpunkt, daß das, was den Gesunden kräftig erhalte und ihn vor Unpäßlichkeiten bewahre, um soviel mehr dem Erkrankten diene zur Wiederherstellung seiner Gesundheit. Damit hat er einen der Hauptgrundsätze der modernen Naturheilkunde vorausgenommen, den wir bei Kneipp wiederfinden und der aussagt: Was den Gesunden gesund erhält, macht auch den Kranken wieder gesund.

Von den Medikamenten hielt Hahn nicht viel: ja, er war ein ausgesprochener Gegner von ihnen. Er sagte, viele Medikamente seien überflüssig und schädlich, das kalte Wasser allein kräftige den Kranken und bewirke eine wahrhafte Aufräumungskur.

Hahn erkannte die große Bedeutung der Haut. Er weiß von ihr, daß sie nicht nur Körperdecke ist, sondern mit allen inneren Organen in einer lebendigen Verbindung steht. Er sagt, durch sie kämen schädliche Säfte zur Ausdämpfung und von ihrem Zustande hänge sehr die Verfassung der inneren Organe und deren Gesundheit ab. Salbe, die man gegen Hautausschläge anwende, vermöge zwar einen Ausschlag rasch zu beseitigen, sie verhindere aber eine eigentliche und gründliche Reinigung der Säfte. Ein durch Salbe in den Körper zurückgedrängter Ausschlag mache „Blindheit, Taubheit, Atemstechen,

Seitenstechen, Brustentzündung, Epilepsie oder Läh-migkeit“. Wenn man einen Hautkranken mit Salbe behandle, ohne das Wasser anzuwenden, tue man ihm ein Unrecht an. Besser als jedes Präparat zur Hautpflege sei das kalte Wasser, und eine „bessere Schminke“ als das kalte Wasser gebe es überhaupt nicht. Die entgiftende und ausscheidende Tätigkeit der Haut äußere sich in der Ausdämpfung, im Schweiß und schließlich im Hautausschlag. Das Wasser reinige die Poren und erleichtere dadurch die Ausscheidung. Grind und Schorf müsse man gründlich mit Wasser behandeln, damit sie natürlich abheilten. Man dürfe sie nicht durch Salben wieder in den Organismus zurückdrängen und dadurch dessen Säfte verderben.

Die Bedeutung Hahns wird wesentlich erhöht dadurch, daß er auch der Diät eine genügende Beachtung schenkte. Hahn bezeichnet das frische Obst als eine treffliche Medizin, besonders Kirschen, Pflaumen, Pfirsiche und Weintrauben. Menstruationsstörungen und Hautausschläge machten einen besonders starken Verbrauch von Obst in der täglichen Nahrung erforderlich. Überhaupt, meint Hahn, müsse man beim Kaltbaden eine „gemäßigte, kühle Diät“ beobachten, kühlende, nicht erhitzende Getränke verwenden und einen ausführlichen Gebrauch von kühler Luft machen. Einen Kranken mit Fußgicht Heß Dr. Hahn 22 Tage nur Wasser trinken und machte ihn damit gesund. Man ist versucht zu sagen, daß Hahn das Fasten und die Rohkost in ihrer überragenden Bedeutung vorausgeahnt hat.

Äußerlich wandte Hahn neben den Umschlägen mit kaltem Wasser mit überraschender Wirkung Quarkaufschläge an, und zwar gegen Schwellungen, Gichtknoten, Fingertuberkulose, Geschwülste und andere „böse Schäden“.

Neben den richtigen Speisen, der äußeren und inneren Verwendung des kalten Wassers, der ausgiebigen Bewegung spielte in der Therapie Hahns auch das „luftige Verhalten“ eine große Rolle, womit er auf die Bedeutung der frischen Luft für die Atmungsorgane und den Gesamtorganismus nachdrücklich hingewiesen hat. Selbst Fiebernde sollten sich beliebig aufdecken und, sobald sie das Bedürfnis danach empfanden, von der kühlen Luft ihren Körper umspülen lassen. Selbst Durch2ug schade dabei nicht. -Die Hoffnung, welche die beiden Hahn hegten, daß ihre glücklichen Wasserkuren die Ärzte nachhaltig beeinflussen würden und daß im kommenden Jahrhundert jeder Arzt die Methode der Wasseranwendung in erster Linie beherrschen würde, ist leider nicht in Erfüllung gegangen. Ja, unter dem Einflüsse der naturwissenschaftlichen Lebens- und Krankheitsbetrachtung entfernten die Ärzte sich von dem gemeinen Wasser mehr und mehr und lernten andere Methoden bewundern, von denen sie glaubten, daß sie weit über dem Wasser ständen. Die Entfernung des gelehrten Arztes von den natürlichen Methoden war der Ansatzpunkt dafür, daß im kommenden, also im 19. Jahrhundert die Naturheilbewegung einsetzte. Da der Arzt den natürlichen Methoden gegenüber versagte, mußten Laien die Führung an sich reißen; wir sehen, daß geniale Behandler aus dem Volk aufstehen, die das, was Dr. Hahn erkannt und geübt hatte und was vor ihm Hunderte von Ärzten zum Gegenstand ihrer Lebensarbeit genommen hatten, in einer wunderbaren Vollendung zum Aufblühen bringen. Wenn wir aber beglückt die weitreichende Wirksamkeit eines Vinzenz Prießnitz, eines Sebastian Kneipp betrachten, so dürfen wir darüber nicht diese tapferen Schweidnitzer Wasserärzte vergessen, die ihre ganze Kraft einsetzten, um die Methode der natürlichen Behandlung für alle Ärzte maßgebend zu gestalten.

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