Die Methodik der Naturheilkunde

Wenn ich jetzt zum Ausgangspunkt meiner Betrachtungen zurückkehren darf, muß ich nun zur Behandlungsart der Naturheilkunde kommen, zu ihrer Methodik. Da drängt sich als erstes die Frage auf, welche Mittel die Naturheilkunde anwendet, um Kranke gesund zu machen oder Gesunde erst gar nicht krank werden zu lassen. Ich erwähnte diese Mittel schon und faßte sie in drei Gruppen, die der physikalischen, der diätetischen und der seelischen Behandlung zusammen. Zur Gruppe der physikalischen Behandlungsmittel gehört das Wasser in jedem Temperaturgrad, Lehm, äußerlich und innerlich angewandt, Luft-, Licht- und Sonnenbäder, Wärme- und Lichtbestrahlungen mit elektrischen Geräten, Gymnastik und Massage, auch die innere Massage nach Thure Brandt und Röder. Diätetische Mittel sind das Saftfasten, die Obstdiät, die Rohkost und die vegetarische Diät, der Wechsel von Fasten und Dursten als Bestandteil der Schrothschen Kur, die Gemischtkost. Die seelische Behandlung der Naturheilkunde kennt die Hypnose, die Suggestion, die Aussprache zwischen Arzt und Patient, die Entspannung und andere Formen der Beeinflussung.

Die Naturheilkunde geht dabei vom Gedanken aus, daß der Mensch bei einer naturnahen Lebensweise, für die er ursprünglich geschaffen ist, ununterbrochen den Erscheinungen und Gewalten der ihn umgebenden Natur ausgesetzt ist, daß diese Naturerscheinungen und -gewalten als sog. „Lebensreize“ auf ihn einwirken und daß ohne diese Einwirkung sein Leben überhaupt nicht fortbestehen könnte. Die Beschaffenheit der Lebensreize, die Art und Weise ihrer Einwirkung hat gestaltenden Einfluß auf unser Leben, Leben und Lebensreize sind voneinander abhängig. Sie stellt sich weiterhin vor, daß der Organismus, der ursprünglich auf eine gewisse Regelmäßigkeit dieser Einwirkungen eingestellt ist, mit ihnen rechnet und aus seinem Gleichgewicht kommen muß, wenn diese Lebensreize in zu starker oder zu schwacher Weise auf ihn einwirken oder ganz fehlen, wie es in unserer durch die Zivilisation veränderten Lebensweise nicht ausbleiben kann. Sie hält daher einen methodischen Einsatz dieser Lebensreize zur Erhaltung der Gesundheit, zur Vorbeugung gegen Krankheiten für unbedingt erforderlich. Sie meint aber weiter, daß diese Lebensreize auch geeignet sein müssen, den aus dem Gleichgewicht geratenen, im landläufigen Sinne des Wortes also „kranken“ Organismus wieder in Gleichgewicht zu bringen, also „gesund“ zu machen.

Ich bezeichnete die Naturheilkunde daher als eine Heilkunde der physikalisch-diäte-tischen und seelischen Behandlung. Nun könnte eingewandt werden – und das ist auch geschehen-, daß eine solche Behandlung ja auch der Universitätsmedizin nicht fremd ist. Das ist zweifellos richtig. Auch die Schulmedizin benutzt physikalische Mittel, wie z. B. die Wärme (Sonne, Diathermie), sie verordnet Diäten bei Nieren-, Gallen-, Leberund anderen Leiden und erkennt je länger je mehr auch die Notwendigkeit einer seelischen Behandlung an. Man könnte also auf den Gedanken kommen, Schulmedizin und Naturheilkunde gingen von den gleichen Grundlagen aus und der ganze Unterschied zwischen beiden bestehe darin, daß die Naturheilkunde aus der Fülle der schulmedizi-nischen Behandlungsmethoden einige wenige herausgreift, sei es, weil sie diese Methoden für besonders wirksam hält und sie daher bevorzugt, sei es, weil sie der Ansicht ist, die von ihr verworfenen schulmedizinischen Behandlungsmittel und -verfahren seien für den Kranken gefährlich, da sie neben der erstrebten Heilwirkung auch noch sehr unerwünschte, schädliche Nebenerscheinungen haben können. Um Streitfragen dieser Art ist es zwischen der Schulmedizin und der Naturheilkunde vielfach gegangen, und ich will sie keineswegs bagatellisieren, weil sie für das Wohl und Wehe des einzelnen Patienten von entscheidender Bedeutung sein können. Aber für unsere Fragestellung haben sie nur einen untergeordneten Rang. Wenn der Gegensatz zwischen Schulmedizin und Naturheilkunde sich in diesen Fragen erschöpfte, dann hätte die Naturheilkunde keinen Anspruch darauf, sich als etwas Besonderes zu betrachten, denn Meinungsverschiedenheiten über den Wert einzelner oder ganzer Gruppen von Behandlungsmitteln gibt es auch innerhalb der verschiedenen Richtungen, in der Schulmedizin wie in der Naturheilkunde, in der Homöopathie wie in der Biochemie.

Diese Frage muß von einem anderen Gesichtspunkt aus angegriffen werden, und zwar möchte ich an einem Beispiel zeigen, in wie verschiedener Weise Schulmedizin und Naturheilkunde dem Namen nach gleiche Behandlungsmethoden anwenden, am Beispiel der Diät. Die Schulmedizin kennt ganz bestimmte Diätformen für einzelne Krankheiten, sie unterscheidet z. B. eine Nieren-, Gallen-, Leber- und Magendiät. Sie geht dabei vom Gedanken aus, daß das erkrankte Organ geschont werden muß, und verbietet daher für die Dauer der Krankheit den Genuß ganz bestimmter Nahrungs- und Reizmittel, die das kranke Organ schädigen oder überanstrengen könnten, so z. B. bei Nierenentzündung vor allem Salz und andere Gewürze, Fleisch, Eier und andere Nahrungsmittel, die besonders reich an tierischem Eiweiß sind, bei Gallenkrankheiten vor allem fette und blähende Speisen usw. Ihre Diät ist ganz und gar auf die vorliegende Krankheit eingestellt, kran heitsbezogen

Die Naturheikkekunde kennt dagegen im Grunde genommen nur eine einzige Diät, die kaum auf diel Art der Krankheit Bezug nimmt, sich vielmehr vorwiegend nach der Schwere der Krankheit richtet. Bei schweren Krankheitsformen beginnt die naturheilkundliche Behandlung fast immer mit dem Fasten, geht dann auf Obst- und Rohkost über, um schließlich bei der vegetarischen Vollkost oder der Gemischtkost zu enden, die sie auch für den Gesunden empfiehlt. Durch diesen allmählichen Aufbau der Kost will sie weniger das einzelne Organ schonen oder anders beeinflussen als die Entgiftung, die Entschlackung, die Ausscheidung im Ganzen fördern, den Stoffwechsel, den Kreislauf und die Atmung erleichtern und so den Kranken in eine körperliche und seelische Lage versetzen, die es ihm möglich macht, den Kampf gegen die Krankheit mit eigenen Kräften aufzunehmen und erfolgreich zu bestehen. Nur in einzelnen Sonderfällen stimmen Schulmedizin und Naturheilkunde in ihrer diätetischen Behandlung überein, z. B. bei der Lungentuberkulose und der Zuckerhamruhr. Die naturheilkundliche Diätbehandlung ist also meist krankheitsunbezogen.

Dieser Unterschied in der Anwendung namensgleicher Behandlungsmittel ließe sich ebensogut für die physikalische und seelische Behandlung in der Schulmedizin und in der Naturheilkunde nachweisen. Ich glaube aber, hier auf nähere Ausführungen darüber verzichten zu dürfen, in welcher Weise sich die Methodik der Schulmedizin und der Naturheilkunde in jedem einzelnen Fall unterscheidet. Für die Verfolgung unserer Frage scheint es mir wichtiger zu sein, daß sich an dem eben angezogenen Beispiel eine Verschiedenheit der Vorstellungen zeigt, von denen die Naturheilkunde und die Schulmedizin sich bei der Anwendung der gleichen Mittel leiten lassen.

Ich stellte erstens fest, daß die diätetischen Maßnahmen der Schulmedizin krankheitsbezogen sind, während die der Naturheilkunde meist keinen direkten Bezug auf die behandelte Krankheit haben. Das hängt mit der geschichtlichen Entwicklung beider Richtungen zusammen. Seit die Medizin sich bemüht, eine exakte Wissenschaft zu sein, d. h. etwa seit der Zeit Galens, muß es ihr vordringliches Anliegen sein, ihr ganzes Gebiet nach dem für die abendländische Wissenschaft maßgebenden Gesetz von Ursache und Wirkung zu untersuchen und zu ordnen. Die Grundlage dafür gibt ihr die Lehre vom Bau und der Funktion des gesunden Körpers, die Anatomie und die Physiologie; auf ihnen baut die Lehre von den Krankheiten, die Pathologie, auf, indem sie die Abweichungen vom „Normalen“ festzustellen sucht. Sie forscht dann nach der Ursache der Krankheiten (Ätiologie) und stellt ein System der Krankheitszeichen auf (Symptomatik), mit deren Hilfe es möglich ist, die Krankheiten auf dem Wege einer genau festhegenden Untersuchungstechnik (Diagnostik) zu erkennen, ihren vermutlichen Ablauf (Prognostik) vorauszubestimmen und danach die Behandlung (Therapie) einzurichten, indem man die Ursache und das Erscheinungsbild der Krankheit beseitigt. Diese Gedanken haben sich für die Entwicklung der Medizin als außerordentlich fruchtbar erwiesen, auf ihnen beruht die medizinische Wissenschaft, die an den Universitäten gelehrt wird – die Schulmedizin. Ihrer Vorstellung nach steht die Entstehung der Krankheit in einem ebenso festen Verhältnis von Ursache und Wirkung wie ihre Beseitigung. Sie bemüht sich daher, für jede Krankheit ganz bestimmte – spezifische – Gegenmittel zu finden, sei es, daß sie ein Medikament verordnet, das imstande ist, die Krankheitserreger abzutöten, sei es -wie in unserem Beispiel, die Diät -, indem sie ganz bestimmte, schädigende Einflüsse auszuschalten sucht, oder indem sie auf operativem Wege den Organbefund korrigiert.

Die Naturheilkunde ist – wie ich schon feststellte – einen ganz anderen Weg gegangen. Sie entstand in den Händen von Laienbehandlern, die nicht die Voraussetzungen und auch nicht den Ehrgeiz hatten, ein wissenschaftliches Heilsystem zu entwickeln, das sich mit dem der Schulmedizin vergleichen ließe. Sie behandelten ihre Patienten auf Grund ihrer Beobachtung und Erfahrung und leiteten aus ihnen unabhängig von der Schulmedizin (und auch mehr oder weniger unabhängig voneinander) die Prinzipien ihrer Behandlungs weise ab. Sie beobachteten, daß die Lebensreize, die sie zur Behandlung einsetzten, bei ihren Patienten Reizantworten, sog. Reaktionen, auslösten und daß bei Reizänderungen auch die Reaktionen sich änderten. Die Reaktionen ließen sich zwar mit einer gewissen Regelmäßigkeit durch bestimmte Reize hervorrufen, waren aber bei verschiedenen Menschen nicht völlig gleich, auch wenn die Reize von gleicher Art, Stärke und Dauer waren, manchmal blieben sie auch ganz aus. In diesen Fällen war die Behandlung wirkungslos. Die Beziehungen zwischen den Reizen und Reaktionen waren also ebensowenig unmittelbar zu fassen wie die zwischen Reizen und Heilung. Zu ihrer Erklärung bediente sich die Naturheilkunde deswegen lange Jahre hindurch einer Hilfsvorstellung, des „inneren Arztes“, dem sie die Fähigkeit zuschrieb, die von außen kommenden Reize zu Reaktionen umzuschalten, die geeignet sind, die Heilung herbeizuführen.

Da die Reaktionen bei den Patienten sich als außerordentlich verschieden erwiesen, ist die Naturheilkunde genötigt, ihre Behandlung individuell zu gestalten. Sie geht bei der Behandlung eines Kranken weniger von einer Krankheitsdiagnose im Sinne der Schulmedizin aus, sondern vielmehr von seinem Gesamtzustand, seinem Allgemeinbefinden, seiner Reaktions- und Regulationsfähigkeit. Diesem Gesamtzustand paßt sie ihre Mittel in möglichst feiner Weise an, sucht mit ihrer Hilfe die Selbstregulation anzuregen und zu steigern und auf diese Weise den Kranken wieder gesund zu machen. Sie behandelt nicht die Krankheit, sondern den Kranken. Ihre Behandlung kann daher u. U. bei zwei Patienten, die nach schulmedizinischen Begriffen die gleiche Krankheit haben, ganz verschieden sein, dafür aber bei Kranken, die an verschiedenen Krankheiten leiden, völlig gleich. Die naturheilkundliche Methodik ist also eine unspezifische Allgemein- oder Ganzheitsbehandlung von Leib und Seele.

Um Mißverständnissen vorzubeugen: Diese Darstellung der Schulmedizin und der Naturheilkunde ist sehr vereinfacht, um den Unterschied scharf herausarbeiten zu können. Weder verzichtet der Naturheilkundler grundsätzlich auf die Anwendung spezifischer Mittel und auf die Operation, wenn sie ihm notwendig erscheint, noch ist der Schulmedizin eine unspezifische Allgemeinbehandlung völlig fremd, oder gar der Begriff der Selbstregulation, der Naturheilkraft. Daß es eine Selbststeuerung des Organismus gibt und geben muß, darüber herrscht kein Zweifel. Es fragt sich nur, wann, wo und wie stark die Selbstregulation das kranke Leben beherrscht, in welchen Erscheinungen man ein Wirken der Naturheilkraft, in welchen dagegen eine Fehlsteuerung, ein Versagen, sehen will. Auch hier, in der Deutung der Krankheitszeichen (Bedeutungsanalyse) gingen die Schulmedizin und die Naturheilkunde verschiedene Wege, die ich am besten an einem Beispiel meine erläutern zu können.

Nehmen wir an, ein Kind erkrankt; es hat Halsschmerzen, fühlt sich matt und abgeschlagen, fiebert. Der herbeigerufene Arzt untersucht das Kind und entdeckt einen beginnenden Ausschlag am Körper des Kindes, der den Eltern bisher noch nicht aufgefallen war, an dem er aber sofort erkennt, daß das Kind an Scharlach erkrankt ist. Es ist bisher völlig belanglos, ob der Arzt Schulmediziner oder Naturarzt ist: beide werten die Krankheitszeichen in gleicher Weise zur Erkennung der Krankheit aus und sind sich auch über die Ursache der Krankheit einig, die ja nur eine Infektion mit dem Scharlacherreger sein kann. Beide ordnen Bettruhe an, lassen das Kind isolieren und melden den Fall der Gesundheitsbehörde. Nun aber scheiden sich ihre Wege. Der Schulmediziner verordnet die typische Nierendiät, da bei Scharlach Nierenentzündungen oft als Komplikation auftreten. Wenn die Krankheitszeichen schwer sind, d. h. die Halsentzündung auf das Mittelohr überzugreifen droht und das Fieber hoch ist, läßt er dem Kind fieberdrückende und entzündungswidrige Tabletten geben oder greift zur Penicillin- oder Scharlachserum-Einspritzung und freut sich, wenn das Fieber rasch absinkt, die Halsentzündung abklingt und der Ausschlag verschwindet. Aus dem Verschwinden der Krankheitszeichen schließt er auf eine Besserung des Befindens. Seine Behandlung richtet sich mithin gegen die Krankheitszeichen.

Der Naturarzt dagegen sorgt zuerst mit Abführmitteln oder Einläufen für eine völlige Entleerung des Darmes. Je nach der Schwere des Falles läßt er das Kind fasten oder beginnt mit einer Obstdiät. Im übrigen verordnet er heiße, von 370 C auf 40 bis 410 C ansteigende Bäder, um das Fieber zu unterstützen, und sucht den Ausschlag mit Schwitzmaßnahmen eher zu fördern als zu unterdrücken. Er sieht im Fieber und im Ausschlag nicht nur ein Krankheitszzeichen, sondern auch Abwehrmaßnahmen des Organismus. Er behandelt also nicht gegen die Krankheitszeichen, sondern mit ihnen, parallel zu den Krankheitssymptomen.

Als wichtigste Kennzeichen der naturheilkundlichen Behandlungsmethoden möchte ich zusammenfassend nennen: Die Naturheilkunde verwendet in den meisten Fällen eine unspezifische Ganzheitsbehandlung mit physikalisch-diätetisch-seelischen Behandlungsmitteln, die geeignet sind, die Selbstregulation des Organismus zu unterstützen, bis sie in der Lage ist, von sich aus wieder die Ordnung der Gesundheit herbeizuführen.