Was versteht man unter Naturheilkunde?

Da wir in diesem Webseite über die Naturheilkunde sprechen wollen und nicht über die gesamte Heilkunde, müssen wir den größten Wert darauf legen, zu Beginn diesen Begriff klar und sauber herauszuschälen und zu umreißen. Fragt man nämlich sowohl Ärzte als auch interessierte Laien, was sie unter Naturheilkunde verstehen, so bekommt man recht verschiedene Antworten, die meist kein vollständiges Bild der Naturheilkunde geben, wie sie heute ist, und daher auch kein richtiges. Naturheilkunde und Schulmedizin befinden sich auch heute noch in einer Auseinandersetzung, wenn auch nicht mehr in einer so scharfen Form wie früher. Es gibt Ärzte, die, von der Schulmedizin herkommend, immer mehr Aufgeschlossenheit für die Methodik und Krankheitslehre der Naturheilkunde zeigen, und andererseits mehren sich die Anhänger der Naturheilkunde, die auch gewisse schulmedizinische Methoden nicht mehr mit der unbedingten Schärfe ablehnen, wie es früher üblich war. Um so nötiger ist in einem Buch, das von der Naturheilkunde handeln soll, eine Klärung, was wir unter Naturheilkunde verstehen. Zu diesem Zweck müssen wir die Naturheilkunde in ihrem Werden, ihrem Wirken und ihren Vorstellungen von der Krankheit betrachten, d. h. ihre Geschichte, ihre Art der Behandlung und ihre Krankheitslehre schildern.

Die Geschichte der Naturheilkunde

Die Naturheilkunde hat sich vom 19. Jahrhundert an in einem Gegensatz zur herrschenden Lehre, der Schulmedizin, entwickelt – z. T. deswegen, weil sie durch die Ablehnung von schulmedizinischer Seite von vornherein in eine Opposition gedrängt wurde. Dabei ist die immer wieder zu beobachtende Neigung, alle Heilmethoden, die von der Schulmedizin abweichen, zur Naturheilkunde zu zählen, ganz falsch, denn es hat zu allen Zeiten und in allen Wissenschaften Abweichungen von der herrschenden Lehre gegeben, die unter sich nichts oder nur wenig Gemeinsames haben. Ich möchte als Beispiel die Homöopathie und die Biochemie nennen, die ebenso wie die Naturheilkunde in ihren Heilmethoden in einem Gegensatz zur Schulmedizin stehen. Man darf aber nicht verkennen, daß sie trotz gewisser Gemeinsamkeiten mit der Naturheilkunde – sie verlangen ebenso wie diese eine Umstellung der Lebensweise – als vorwiegend medikamentös ausgerichtete Heilverfahren der Schulmedizin näherstehen als die Naturheilkunde. Sie allein deswegen, weil sie sich ebenfalls in einem Gegensatz zur Schulmedizin befinden, in einen Topf mit der Naturheilkunde werfen zu wollen, wäre ein Unding. Die Bezeichnung Naturheilkunde kann also nur für Lehren und Behandlungsmethoden gelten, die in ihrem Wesen und ihren Grundlagen einen gemeinsamen Nenner haben, der durch die Bezeichnung Natarheilkunde bereits angedeutet wird.

Der erste, der das Wort „Naturheilkunde“ anwandte, war Rausse. Vor ihm war für die Heilweise von Prießnitz und seinen Nachfolgern die Bezeichnung „Wasserheilkunde“ üblich. Erst als der Mecklenburger Apotheker Theodor Hahn in seiner Heilanstalt die Wasserheilkunde mit vegetarischer Ernährung verband und damit dem bisher völlig im Vordergrund stehenden – man kann fast sagen, einzigen – Behandlungsmittel ein zweites, anscheinend völlig andersartiges hinzufügte, traf diese Bezeichnung nicht mehr zu und mußte durch eine andere ersetzt werden, die beiden gerecht wurde. Zur Wasserbehandlung und Ernährungsregelung kamen im Laufe der Zeit weitere Verfahren hinzu, die das Licht und die Wärme der Sonne, die Bewegung durch Gymnastik, Massage und andere Methoden zur Behandlung Kranker einsetzten. Wasser, Bewegung, Luft, Licht, Wärme und Sonne sind physikalische Reize, die Kost ein diätetischer Reiz. Allen diesen physikalisch-diätetischen Behandlungsmitteln erschien ihren Anhängern das eine gemeinsam, daß sie im Vergleich mit denen der Schulmedizin, die sich im Laufe des letzten Jahrhunderts immer mehr zu einer Heilkunde der Medikamente und des operativen Eingriffs entwickelte, „natürlich“ sind. Die Naturheilkunde bedient sich zur Behandlung Kranker derselben Lebensreize, die bei einer naturnahen Lebensweise täglich auf den Menschen einwirken, mit denen er sich daher auseinandersetzen muß und auf die er in seiner körperlichen Beschaffenheit eingestellt ist, während die Schulmedizin chemisch reine, synthetisch, also künstlich hergestellte Mittel nicht scheut, wenn nicht sogar bevorzugt.

Diese Gegensätzlichkeit in der Entwicklung zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze Geschichte der Naturheilkunde und der Schulmedizin in den letzten anderthalb Jahrhunderten; selbstverständlich ohne daß sie den Vertretern beider Richtungen von Anbeginn an in ihrer grundsätzlichen Bedeutung und ihrem ganzen Umfang bewußt war. Die Naturheilkunde erstand ja nicht als theoretisches Lehrgebäude, sondern begann ihren Weg als Heilkunde der praktischen Erfahrung; an ihrem Anfang standen Männer, die ihren Antrieb allein aus ihrem persönlichen Erlebnis und aus ihrer Erfahrung bezogen, medizinische Laien, wie der Bauer Vinzenz Prießnitz, der Bauer und Fuhrmann Johann Schroth, der Apotheker Theodor Hahn, der freireligiöse Prediger Eduard Baltzer. Erst später kamen Ärzte hinzu, die, mit dem Rüstzeug der Wissenschaft ausgestattet, auf dem Wege wissenschaftlicher Untersuchung und Beobachtung vor allem in der Ernährungskunde wesentliche Beiträge zur Entwicklung und zur Unterbauung der Naturheilkunde lieferten, wie der Nordamerikaner Dr. E. H. Dewey, der Engländer Dr. Alexander Haig, Dr. Heinrich Lahmann aus Dresden, Dr. Bircher-Benner aus Zürich. Aber auch während des Wirkens dieser Wissenschaftler traten Laien hervor, die der Entwicklung neue Anstöße gaben oder bereits bekannte Methoden der Behandlung abwandelten und verfeinerten, wie der deutsch-amerikanische Fotograf G. Schlickeysen, der katholische Priester Sebastian Kneipp, der Berner Färbereibesitzer Arnold Rikli, der schwedische Major Thure Brandt und der deutsche Offizier Neumann-Neurode. Diese Aufgeschlossenheit gegenüber Anregungen aus Laienkreisen ist ein weiteres Merkmal in der Geschichte der Naturheilkunde, das sie von der Schulmedizin abhebt. So wird es ohne weiteres verständlich, daß sich die Naturheilkunde früher dem Gedankengut des Turnvaters Jahn und des Leipziger Arztes und Gymnasten Dr. Schreber, von dem die Schrebergärten ihren Namen haben, öffnete und damit einen Weg beschritt, der in zunehmendem Maße auch für die Schulmedizin fruchtbar wurde, allerdings ohne daß die Schulmedizin der Naturheilkunde völlig konsequent folgte. Ich meine das weite Gebiet der Lebenspflege und Gesunderhaltung durch Abhärtung und Vorbeugung, auf dem die Naturheilkunde sich derselben Mittel bedient wie in der Krankenbehandlung, während die Schulmedizin zwischen beidem einen grundsätzlichen Trennungsstrich zieht. Auch die Methode der seelischen Beeinflussung fand bereits eine Pflegestätte in der Naturheilkunde, als sie noch lange nicht Allgemeingut der Ärzte geworden war. Das Verfahren der magnetischen Kraftübertragung von Mensch zu Mensch, das der Arzt Anton Mesmer im 18. Jahrhundert entwickelte, wurde und wird von der Schulmedizin aus Mangel an meßbaren Grundlagen abgelehnt, während die Naturheilkunde die praktischen Erfolge, die mit der magnetischen Kur erreichbar sind, keineswegs verkannte und sich ihnen ebensowenig verschloß wie der Hypnosebehandlung des schwedischen Arztes Dr. Wetterstrand und der Autosuggestion des französischen Apothekers Cou6. Auch hier bewies die Naturheilkunde den richtigen Instinkt, indem sie die seelischen Kräfte des Arztes und des Patienten für die Heilung einzusetzen bereit war, ausgehend von dem Gedanken, daß der Mensch als leibliches und geistig-seelisches Wesen ein Ganzes bildet und daß daher eine körperlichseelische Behandlung seiner Natur am besten entspricht.

Bisher habe ich nur von den schöpferischen Persönlichkeiten der Naturheilkunde gesprochen, den Entdeckern neuer Heilwege und den Erfindern neuer Heilverfahren. Ohne ihr Wirken hätte die Naturheilkunde nicht entstehen können, und so gebührt ihnen in der Geschichte der Naturheilkunde der erste Platz. Andererseits wäre ihre Leistung aber wohl nur auf ihre Lebenszeit beschränkt geblieben, wenn sich unter ihren Patienten und Anhängern nicht unermüdliche Anwälte ihrer Ideen und Gedanken gefunden hätten, die als Schriftsteller und Propagandisten für sie eintraten und durch Vereinsgründungen dafür sorgten, daß sie nicht wieder untergingen.

Die Bedeutung der Vereine darf vor allem in einer Hinsicht nicht unterschätzt werden: in ihrer erzieherischen Wirkung. Es war und ist ihr Verdienst, durch Vorträge, Lehr-kurse und Herausgabe von Zeitschriften den Gedanken der gesundheitlichen Selbstverantwortung zu fördern, durch Errichtung von Luft- und Sonnenbädern und anderen Einrichtungen für die Erhaltung der Volksgesundheit tätig zu sein. Sie stehen in erster Linie im Dienste der Vorbeugung und ersparen uns damit die Notwendigkeit, immer mehr, immer größere und immer kostspieligere Krankenhäuser und Sanatorien zu bauen. Der Staat müßte eigentlich alles tun, um ihre Bestrebungen zu unterstützen und zu fördern.

Schon vor dem zweiten Weltkriege hatten die verschiedenen Naturheilbünde mehrere Hunderttausende von eingetragenen Mitgliedern. Die Zeitschriften der Naturheilkunde sind ebenfalls in Hunderttausenden von Exemplaren verbreitet und gelesen worden und haben die Lehre vom naturverbundenen Leben und Heilen weit im Volk und in der Welt verbreitet. So entstand die Naturheilbewegung, die nicht nur Deutschland, sondern viele andere Länder ergriffen hat und deren unbestreitbares Verdienst es ist, daß sie den Schöpfern und Lehrern der neuen Heilkunde, die ja auf staatliche Unterstützung nicht rechnen durften, die Grundlage für eine Wirkung gaben, die über ihren engsten Umkreis hinausreichte. Ohne die von den Vereinen und Bünden getragene Volksbewegung wäre die Errichtung naturheilkundlicher Kuranstalten und Sanatorien und der wenigen öffentlichen Naturheilkrankenhäuser nicht möglich gewesen.

Die von mir bereits erwähnte Kampfstimmung zwischen Schulmedizin und Naturheilkunde fand je länger desto mehr ihren Schwerpunkt in der Forderung der Naturheilkünde, ihre Verfahren und ihre Betrachtungsweise auch im Krankenhaus und in der Klinik eingesetzt zu sehen. Während in Kuranstalten und Sanatorien hauptsächlich chronisch Kranke behandelt werden, ist der akute Krankheitsfall die Domäne des Krankenhauses und der Klinik. Die Hochschulmedizin gibt zu, daß die Methoden des naturgemäßen Lebens und Heilens für die Zwecke der Vorbeugung und Gesunderhaltung ausgezeichnet sind, ja auch außerordentlich nützlich im Kampf gegen chronische Krankheiten, Leiden und nervöse Störungen. Beim akuten Krankheitsfall hingegen hält die Schulmedizin andere Methoden für unabdingbar. Neben der Operation herrscht hier vorwiegend das Medikament, das Serum. Wir leben ja in einer Zeit, in der die Medikamente, die Sulfonamide, das Penicillin und andere mehr, wahre Triumphe zu feiern scheinen. Die Schulmedizin hält die in der naturheilkundlichen Behandlungsweise üblichen Anwendungen im akuten Krankheitsfall für unzureichend. Dies wird von der Naturheilkunde energisch bestritten. Selbstverständlich kommt die Naturheilkunde, wenn sie alle Krankheitsformen behandeln muß, nicht ganz ohne Operation und Medikamente aus; sie hat aber immer wieder bewiesen, daß sie mit ihren eigenen Mitteln und Verfahren auch für die akute Krankheit glänzend gerüstet ist. Ich selbst habe in den Jahren 1934 bis 1943 als Leiter der Klinik für Naturheilkunde in Dresden etwa dreißigtausend Kranke, die nicht nach besonderen Gesichtspunkten ausgewählt waren, fast rein naturheilkundlich behandelt und gezeigt, daß die Erfolge unserer Methode auch in akuten Krankheitsfällen nicht hinter denen der Schulmedizin zurückstehen. Je einseitiger, ausschließlicher man sich in der klinischen Behandlung auf die Operation, das Serum und auf Medikamente verläßt, um so schneller stellen sich ihre Grenzen, Gefahren und Unvollkommenheiten heraus. Die Naturheilkunde hält es daher für einen Fehler und ein Unglück, daß bei der Behandlung akuter Krankheitsfälle die naturgemäßen Methoden so gut wie gar nicht eingesetzt werden sollen.

Hier also, beim akuten Krankheitsfall, scheint bis heute eine unüberwindliche Kluft zwischen Schulmedizin und Naturheilkunde zu bestehen. Wie so oft scheint mir auch hier die Wahrheit in der Mitte zu liegen: Die naturheilkundliche Behandlung sollte auch im akuten Krankheitsfall die Grundbehandlung abgeben, da und dort jedoch durch die Operation, das Medikament und das Serum ergänzt werden. Die Stellung der Schulmedizin zu dieser Frage hängt zum großen Teil damit zusammen, daß die meisten Ärzte nur die Verfahrensweisen der Universitätsmedizin kennen und von der Naturheilkunde allzuwenig verstehen. Die Naturheilkunde kann daher auf öffentliche Krankenhäuser zur Ausbildung von Ärzten und zur Forschung ebensowenig verzichten wie die Schulmedizin. Das gleiche gilt für die Forderung der Naturheilkunde auf Lehrstühle an den Universitäten, der bisher noch in völlig ungenügendem Maße Rechnung getragen worden ist.

Ich glaube, mit diesen Ausführungen nachgewiesen zu haben, daß die Eigenständigkeit der Naturheilkunde sich schon in ihrer geschichtlichen Entwicklung zeigt. Eine Bewegung, die bloß den Rang eines Außenseiters hat, könnte weder den Umfang erreichen, den die Naturheilbewegung aufweist, noch könnte sie gegenüber einer wissenschaftlich so fundierten, auf vielen Gebieten so in die Augen springend erfolgreichen, dazu noch vom Staat geförderten Gegenrichtung, wie es die Schulmedizin unbestreitbar ist, tiefe Einbrüche erzielen und einen Einfluß auf das Denken und Handeln maßgebender Schul-mediziner gewinnen, wie es in letzter Zeit der Fall ist.